Ein Kapitel aus dem Buch “Mannsbilder” von Boris Halva
Verlag: Komplett Media GmbH
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Und da wir gerade davon sprechen: Wer hat sich eigentlich den Quatsch vom Indianer, der keinen Schmerz kennt, ausgedacht?
Und was will uns der Erfinder damit sagen? Dass wir wie Indianer sein sollen, weil sie die besseren, stärkeren Menschen sind? Steht der Indianer nicht schon viel zu lange als bedrückendes Bild für Menschen, die einst die Kontinente durchwanderten und im Einklang mit der Natur lebten, aber bis heute vom weißen Mann in Reservate gepfercht und mit Schnaps und Glasperlen ruhiggestellt werden? Ist mit dem Indianer, der keinen Schmerz kennt, nicht vielleicht gemeint, dass er sich betäubt, um zu vergessen, dass dieses Leben, das ihm aufgezwängt wurde, nicht dem entspricht, was eigentlich in ihm steckt? Also, wenn das der Indianer ist, der keinen Schmerz kennt, dann wollen wir hier keine Indianer mehr sein.
Und warum hat es eigentlich keiner gemerkt, dass man nicht von kleinen Jungs verlangen kann, dass sie einerseits ihre Gefühle unterdrücken, aber andererseits bessere Männer werden sollen als ihre Väter, die nach dem Vorbild der Indianer ihren Schmerz verstecken und sich zum Ausgleich volllaufen lassen?
Oder an Gewichten reißen, bis ihnen schwindelig wird? Oder bis um 22 Uhr im Büro sind und sich dann noch ein bisschen Arbeit für den Samstag mit nach Hause nehmen? Und kann es wirklich sein, dass ich auch einer von diesen Indianern geworden bin, obwohl mir niemand gesagt hat, ich soll ein Mann sein und »mich mal nicht so anstellen«? Beziehungsweise: Hat mir das wirklich niemand gesagt? Oder habe ich das nur vergessen, vielleicht sogar verdrängt?
Das Indianer-Motto habe ich zwar auch hin und wieder zugerufen bekommen, aber meist mit einem aufmunternden Lächeln. Und dennoch wusste ich als Kind schon nicht wirklich, was das sollte. Trotzdem haben sie mich gekriegt, die Indianer-Schmerzen; trotzdem räume ich immer noch auf, wenn mein Vater zu Besuch kommt, obwohl ich weiß, dass eine ordentliche Wohnung nicht zwangsläufig eine aufgeräumte Seele widerspiegelt; trotzdem hat mich die Krise gekriegt, obwohl ich immer dachte, ich sei vor so was gefeit. Weil ich ja immer so viel selbst reflektiere und auch über meine Gefühle sprechen kann.
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Tja, so kann’s gehen. Nice Try, Mr. Nice Guy.
Unter den vielen Männern in Hamburg ist einer, der an die anderen appelliert, die Arbeit an sich und die Wünsche nach Veränderung nicht zu lange vor sich herzuschieben. Er hat genau das all die Jahre gemacht, sagt er, und einen hohen Preis bezahlt. Krank an Körper und Seele sei er. Nicht nur Zipperlein: »Da ist nichts mehr zu retten.« Ein paar Monate hat er noch. Und er will sich die Zeit, die ihm noch bleibt, eben so schön machen wie möglich. »Deshalb bin ich hier!« Wir applaudieren. Und dann meditieren wir. Siebzig Männer schließen die Augen, werden ruhig. Wir schauen auf den See, der da in unserem Inneren vor uns ruht. Wir werfen einen Stein und sinken mit ihm auf den Grund. Und dann machen wir uns auf die Suche nach dem kleinen Jungen, der wir einst waren. Wir gehen in die Knie, rufen den Kleinen zu uns, nehmen ihn in den Arm, sagen ihm, dass wir ihn lieben und dass er das alles wirklich gut gemacht hat. Auch wenn nicht immer Gutes dabei herausgekommen ist. Wir halten ihn, trösten ihn.
Ich kann ihn nicht sehen, diesen kleinen Jungen, aber ich kann ihn spüren, tief drinnen in mir. Und als ich diesen kleinen Jungen, der ich einst war, vor meinem inneren Auge im Arm halte, kommen mir die Tränen. Ich bebe. Mir war nicht bewusst, wie traurig dieser kleine Junge noch immer ist. Es beruhigt mich, dass auch mein Nebenmann leise schluchzt. Robert sagt, nun sollen wir auch unsere Väter dazu holen. Und mein Vater kommt, auch er hat sein inneres Kind an der Hand. Ich darf ihm jetzt etwas sagen, dass ich ihm schon lange sagen wollte, aber mir fällt nichts ein. Dann umarmen wir uns – und das fühlt sich gut an. Hinter meinem Vater steht sein Vater, auch er als Mann und Junge. Zuletzt rufe ich noch den Vater meiner Mutter dazu, und dann stehen wir da, vier Männer und vier Jungen, und sie alle sind so unendlich traurig. Die Großväter, weil ihnen Krieg und Konventionen die Kindheit und Jugend gestohlen haben; mein Vater, verletzt von der Gewalt des Krieges, deren langer Schatten auch über seiner Kindheit lag; und ich, der Dritte in der Reihe, trotz aller Wirren behütet aufgewachsen und doch auch von den Nachbeben der Kriegstraumata in seinem Kern erschüttert, immer wieder.
Ich hätte nie gedacht, dass da so viel Traurigkeit in mir wohnt. Aber es ist gut, davon zu wissen.
Zurück im Hier und Jetzt berichten einige, wie es für sie war, da unten, am Grund ihrer Gefühle. Allein mit sich und dem Vater, an dem sich viele der Anwesenden bis heute in irgendeiner Form abarbeiten, den sie zu verstehen versuchen, sich vielleicht sogar wünschen, ihm vergeben zu können, auch wenn da immer noch diese Wut ist.
Ein Arschloch sei der Vater gewesen, hat Josef gesagt, als es darum ging, was er denn heute von dem Menschen halte, mit dessen Samen er gezeugt wurde. Er kenne sonst nur Wut, sagt Josef, aber nach dieser Reise zum Seelengrund habe er Wärme gespürt, Innigkeit. Von einer schönen Begegnung berichtet einer, ein anderer hat zwar nur eine Ahnung von all dem bekommen, was zu sehen sein sollte, aber immerhin. Alle wirken beseelt, der Raum ist erfüllt von einer milden Energie. In der Ruhe wirkt die Kraft.
Ich fühle mich allein angesichts der Traurigkeit, die ich da tief in mir drin entdeckt habe – und dann auch wieder nicht einsam, da mir eben bewusst geworden ist, dass auch meine Ahnen, also die Männer in der Reihe vor mir, traurig gewesen waren, allesamt.
Jeder auf seine Art, aber alle tieftraurig. Und einsam. Ich verspüre angesichts all der wohligen Gefühle, die da geschildert werden, das Bedürfnis, von meiner Entdeckung der Traurigkeit zu berichten, behalte sie aber für mich. In einer Mischung aus Dankbarkeit und Vorfreude, mit dieser Erkenntnis an mir arbeiten zu können. Mir einzugestehen, dass es zwar widersprüchlich erscheint, aber durchaus zusammenpasst: im Kern tieftraurig zu sein und doch optimistisch und den anderen zugewandt durchs Leben zu gehen.
Robert begleitet uns wie ein väterlicher Freund. Und vielleicht ist es genau das, was die meisten hier nicht erlebt haben: dass ihr Vater einfach da ist und zuhört.
Wer eintaucht in die Welt der Männer, die auf der Suche sind nach sich selbst oder einem besseren Leben, kommt am Vater nicht vorbei. Ganz gleich, ob er abwesend war oder brutal, unerreichbar oder einfach die »Wurzel aller Trauer, aller Wut, allen Übels«, wie es John Aigner ausdrückt, vier Wochen später auf der Männerkonferenz in Berlin.
Während die Selbstfindungsanfänger in Hamburg sich nur kurz umarmt und alsbald damit begonnen haben, dem anderen auf den Rücken zu klopfen, als wäre der ein alter Teppich, liegen sich die schon länger bewegten Männer im Tagungsraum an den Tegeler Seeterrassen lange in den Armen. Sehr, sehr lange. Immer und überall. Ohne Klopfen. Meist mit geschlossenen Augen und einem Lächeln auf den Lippen. Hier geht es um Sein und Bewusstsein, reden und reden lassen.
John Aigner, seit ein paar Jahren das Gesicht der Konferenz »MANN SEIN« und des Trägervereins Malevolution, betont in seiner Begrüßungsansprache: »Wir sind nicht politisch. Unsere Politik ist: Erzähl deine Männergeschichte, und behandle deine Mitmänner herzlich, so entsteht eine neue Qualität im Miteinander von Männern.« Es geht um ein »Kräftemessen ohne Schwanzmessen, Ringen ohne Kämpfen«. Er werde von Journalisten immer gefragt: »Wie sieht er denn so aus, der neue Mann?« Und er sage dann immer, den neuen Mann gebe es noch nicht, »wir sind immer noch dabei, uns neu zusammenzusetzen«. Aber irgendwann entstehe dann daraus eine Männlichkeit mit neuen Qualitäten, die eine neue Qualität im Miteinander von Menschen ermögliche.
Später, in der Schlange vor dem Büfett, sagt einer: »Offline sind wir total stark.«
Eigentlich ein Scherz, weil die Homepage seiner Männertruppe gerade nicht funktioniert – aber im Grunde ist das bezeichnend für diese sanft, aber bestimmt agierende Männerbewegung, die sich seit einigen Jahren formiert. Und beständig wächst. Sie treffen sich nicht nur auf Tagungen, wie etwa der jährlich in Berlin ausgerichteten »MANN SEIN«-Konferenz, die 2015 mit 90 Männern startete und heute 400 Teilnehmer hat. Sie treffen sich auch in ihrem Kiez, in Burgen, im Wald, um sich auszutauschen, in den Flow zu kommen, sich zu initiieren oder ihr inneres Kind zu umarmen. Und vor allem, um Antworten zu finden auf Fragen wie: Wo komme ich her? Und wo will ich hin?
Natürlich vermarkten sich die Männercoaches und Herzenskrieger auch online, es gibt etliche Podcasts und Blogs, zu den bekannteren zählen »Männlichkeit leben« des Bevaterungs- Gurus Bjørn Thorsten Leimbach oder »Männlichkeit stärken« von Sven Philipp und Martin Rheinländer. Letztere haben mit einem Videokanal begonnen, auf dem sie übers Flirten gesprochen haben – inzwischen organisieren die beiden herangereiften Plaudertaschen Reisen nach Nepal, wo sie die Sinnsuche mit Männern bis auf 5000 Höhenmeter ausgeweitet haben. Und die nächsten Geschäftsfelder werden bereits erschlossen: Martin ist gerade Vater geworden, und Sven verrät, dass er es bald wird. Aber die Kraft und Vielseitigkeit dieser bewegten Männer ist nur jenseits des Internets wirklich zu spüren. Man muss eintauchen in den Sog der 400 Aufgeschlossenen, um zu fühlen, da ist etwas in Bewegung; muss sich mitreißen lassen von der Energie des Haka, dem Kriegstanz der Maori, für den sich mancher im Saal das Hemd vom Leib reißt, um sich stampfend und klatschend ins finale, aus vollem Hals und mit rausgestreckter Zunge gebrüllte »Hiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii!« fallen zu lassen. Eins werden mit der Masse. Was oft genug eher Beklemmung und Angst in mir auslöst, fühlt sich hier erstaunlich wohltuend, beinahe reinigend an. Kurzzeitig ändert sich die Schwingung, als Bjørn Thorsten Leimbach die alte Mädchen-gegen-Jungs-Leier anwirft und dafür von vielen hier im Saal bejubelt wird. Aber abgesehen von dieser kleinen Entgleisung gilt: Hier tagt der Klub der sanften Krieger. Hier wird das Männerrudel zum Kraftort. Hier gibt es ein bisschen Ekstase als Lohn für die Mühen des Aufbruchs.
Aufbruch – und das wird hier in Berlin ein weiteres Mal deutlich – heißt für Männer auch immer: Ihr Verhältnis zum Vater zu klären. Denn wenn ein Mann auf Kriegsfuß mit seinem Vater steht, kann er kein guter Vater sein, erklärt uns Sharan Thomas Gärtner im Verlauf seines Vortrags. Er bittet immer mal um Handzeichen als Antwort auf seine Fragen. Und siehe da: Fast alle hier haben sich geschworen, es anders zu machen als der eigene Vater. Fast alle hier erinnern sich an einen Vater, der zwar physisch anwesend war, aber trotzdem nicht da. Fast alle fühlten sich zumindest zeitweise wie ein Junge im Männerkostüm. Fast alle kennen Wut, Trauer, Einsamkeit. Aber auch Angst und den Druck der Erwartung. Alle sehnen sich mehr oder weniger nach Liebe und Anerkennung. Früher schon. Und immer noch. Und wer das Gefühl hatte, von seinem Vater nicht geliebt zu werden, füllt diese Leere entweder mit Rausch oder Geltungssucht.
Doch es kommt der Tag, an dem wir »unsere Vaterwunde schließen müssen«, wie Sharan es nennt. Wir müssen uns aufmachen und unserem Vater sagen: Lass uns reden. Und er wird reden, denn auch wenn er es uns gegenüber nie gezeigt hat – jeder Vater wartet darauf, dass sein Kind kommt und sagt: Lass uns reden.
Und das ist vielleicht der größte und entscheidende Unterschied der Männer von heute zu den früheren Generationen: Sie reden. Nicht alle, aber immer mehr. Nicht alle reden über das, was in ihnen vorgeht, aber auch sie werden mehr. Weil sie spüren, es gibt nichts zu verbergen; weil sie merken, sie sind nicht allein auf der Suche nach dem Glück. Und auch nicht allein in ihrem Unglück.
Sie greifen auch in Berlin zum Mikro, als die offene Diskussionsrunde eingeläutet wird. So wie Lars, der sagt: »Ganz ehrlich, ich bin überfordert. Ich möchte meine Firma gut führen, ein guter Papa sein und ein guter Mann. Bin ich da allein? Oder geht es uns allen so?« Der Applaus für Lars zeigt: Er ist nicht allein.
Ein anderer ist froh, »dass wir Männer uns nach Tausenden von Jahren endlich mal schuldig, endlich mal als Opfer fühlen dürfen«. Eher verhaltener Applaus. Mit dieser Haltung scheint er hier eher allein. Doch auch er bekommt seinen Zehn-Punkte-Applaus, als er kurz darauf mit den Worten schließt: »Wir müssen aufhören, uns zu teilen. Wir sollten gemeinsam für eine bessere Gesellschaft kämpfen.«
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