Naikan-Innenschau: Eine Begegnung mit meinem Vater

Ein persönlicher Bericht von Peter Ehrenfels über seine Erfahrung mit Naikan

Foto: Peter Ehrenfels

An einem sonnigen Herbsttag 2006 saß ich mit meiner damaligen Frau in einem Kaffee in Würzburg, nach dem sie mich von meiner Reise nach Tarmstedt bei Bremen vom Bahnhof abgeholt hatte. Ich habe ihr von meinen Erlebnissen in 7 Tagen, an denen ich Naikan praktiziert habe erzählt.

Nie zuvor, und seither auch nie mehr danach waren meine Sinne so offen, und mein Inneres so weit, wie nach diesen Tagen.

Naikan stammt aus Japan und bedeutet Innenschau. Grundlage ist eine stille und intensive Betrachtung der eigenen Lebensgeschichte im Spiegel nahestehender Menschen.

Sieben Tage Rückzug aus dem Alltag. Nicht sprechen, nicht lesen nicht schreiben, kein Kontakt zur Außenwelt. In ruhiger, geschützter Atmosphäre hinter einem Wandschirm, schaue ich auf meine Beziehungen zu den mir wichtigsten Personen in meinem Leben. Mutter, Vater, Geschwister, Lehrer, später die Partner, Kinder. Drei führende Fragen, eine klare Struktur und definierte Zeiträume, mit der Geburt beginnend in 5 Jahres Perioden helfen dabei. Von morgens um 6 bis Abend 21 Uhr praktiziere ich Naikan, in dem ich mich mit den drei Fragen beschäftige, für die ich jeweils 90 Minuten Zeit habe:

  • Was hat (meine Mutter, mein Vater) für mich getan?
  • Was habe ich für sie getan?
  • Welche Schwierigkeiten habe ich ihnen jeweils bereitet?

Nach 90 Minuten kommt Gerald Steinke, der Seminarleiter, öffnet den Wandschirm und fragt mich woran ich mich erinnern konnte?! Ich erzähle ihm meine Erinnerungen. Er bedankt sich und fordert mich auf, übe weiter Naikan.

Der erste Tag war für mich hart gegen meine inneren Widerstände zu bestehen.

Wer hat schon Erinnerungen an seine ersten 5 Lebensjahre? Ich denke meine Mutter hat mich genährt und versorgt, was ja schließlich jede Mutter macht!? Ich weiß, dass mein Vater immer viel gearbeitet hat, also was soll er schon für mich getan haben, außer, dass er auch mir durch seine Arbeit ein gutes Zuhause geschaffen hat. Na ja, das Leben haben sie mir geschenkt!

Ebenso wenig konnte ich beantworten, was ich für meine Eltern getan habe und was soll ich ihnen als Kind für Schwierigkeiten bereitet haben?

Am zweiten Tag hat mein System rebelliert, ich wollte ich nur noch weg, wofür soll das gut sein, 15 Stunden am Tag sitzen, mal liegen, keine Bewegung. Auf zwei Quadratmeter, auch die Mahlzeiten nehme ich hinterm Wandschirm ein, und immer nur diese drei Fragen.

Insbesondere drängt es mich bei der 3. Frage nach einem ja aber, ich habe meiner Mutter, meinem Vater diese und jene Schwierigkeiten bereitet, WEIL!,  weil ich mich rechtfertigen will, wie ich das ja schließlich gelernt habe und wie das ja offensichtlich jeder einigermaßen selbstbewusste Mensch tut!? Aber genau diese Frage bekommt keine Aufmerksamkeit.

Meine Widerstände schwinden gegen Ende des zweiten Tages in der gleichen Weise, wie sich mein Zugang zu meiner Innenwelt öffnet.

Insbesondere die Begegnung mit meinem Vater hat mich tief berührt. Die Seiten mit Erinnerungen was mein Vater für mich getan hat füllen sich. Da ist so vieles, ich habe so viel von ihm bekommen: seine Fürsorge, seine Verlässlichkeit, seine Güte, seine Hilfe, sein Fleiß. Mein Vater hat so viel für mich gemacht und Charaktereigenschaften geprägt, die ich an mir mag. Ich bin empfindsam, sensibel, pflichtbewusst, verlässlich, mitfühlend, einfühlsam. Mein Vater war und ist eitel. Das bin ich auch. Meine Eitelkeit hat mich zeitlebens animiert mich gesund und körperlich fit zu halten. Darüber bin ich sehr froh, auch wenn mir das genießen bis heute schwerfällt.

Er hat mich schon recht bald eingespannt bei den Arbeiten in Haus und Hof mitzuhelfen. Als gelernter Büttner hat er mich in seine Werkstatt zum Fassbau mitgenommen. Später habe ich aktiv beim Hausbau mitgeholfen, und habe in den unterschiedlichen handwerklichen Gewerken Basisfertigkeiten gelernt. Ich habe als jugendlicher dadurch viel entbehren müssen, aber ich habe viel Geschick gelernt, das mir heute sehr wertvoll ist.

Mein Vater hat mir auf seine Art versucht seine Werte zu vermitteln, wie wichtig für ihn Ehrlichkeit, Fleiß und Verlässlichkeit ist. Mein Vater war sehr nach Außen orientiert, ihm war sein Ansehen wichtig. Das hat mich geprägt und angetrieben mir durch Leistung Beachtung und Anerkennung zu erarbeiten. Alles hat Licht und Schattenseiten, und jeder hat Prägungen, denen ein Potenzial innewohnt das entfaltet werden will. An diesen Tagen konnte ich so vieles, das vom Schatten meiner Bewertungen überlagert und in Vergessenheit geraten war wieder ins Licht holen.

Nach diesen sieben Tagen bin ich tief berührt, dankbar und verbunden mit meinem Vater und den Menschen, mit denen ich in Begegnung gegangen bin. Ich konnte sie mit meinem Herzen sehen.

Die Rückfahrt mit dem Zug von Bremen nach Würzburg war für mich ein Fest der Sinne. Es war ein sonniger Wintertag. Ich hatte kein Interesse mich mit meinem Handy zu beschäftigen. Außer dass ich mit meiner Frau geflirtet habe, wie nie davor. Ich habe die vorbeiziehende Natur wie ein neugieriges Kind bestaunt, war in einem so schönen innigen Gefühl mit den Menschen, an die ich mich in den zurückliegenden Tagen erinnert habe.

Naikan war für mich eine Reise in meine Vergangenheit die mein Herz weit geöffnet und meine Sinne erregt hat. Ich kenne diesen Zustand nur von Bewusstseinserweiternden Substanzen, die mich kurzzeitig ins jetzt holen. Raus aus dem Kopf, ankommen im Körper, mit allen Sinnen verbunden. Ein Zustand der sich im Alltag leider nicht halten lässt.

Naikan ist ein Weg der Versöhnung. Es ist ein sanfter und doch äußerst wirkungsvoller Weg der Selbsterkenntnis, der zu einer veränderten Sicht der inneren und äußeren Welt führt.

Die Begegnung mit meinem Vater hat mich geschmerzt und beschämt, aber auch gleichermaßen beglückt, und den Rebellen in mir friedfertiger werden lassen. Den Teil in mir, der die Sehnsucht nicht loslassen will, meinen Vater als Vorbild zu sehen, und sich wünscht stolz auf meinen Vater zu sein. Die Erinnerung an Naikan hilft mir das Gute zu sehen, mich mehr den Licht, als den Schattenseiten zuzuwenden.

Gerald Steinke, der Begründer des Deutschen Naikan ist bereits 2010 verstorben. Er hat viele Menschen zu Naikan Lehrer ausgebildet, die diesen Weg der Versöhnung weitertragen, und somit in unserer Gesellschafft wertvolle Friedensarbeit leisten.

Mehr Information über Naikan im nachstehenden Link

https://www.naikan.de/

Über Peter Ehrenfels 8 Artikel
Jahrgang 61. Gebürtiger Franke. Meine berufliche Heimat war 32 Jahre der Leistungsorientierte Vertrieb. Ich sehe meine Krisen als die Highlights meines Lebens, die mich in Erfahrungen geführt haben, mich mit mir und meinem Mann sein auseinanderzusetzen.

Ich vertraue darauf, dass in all meinen Schwächen und Befindlichkeiten, meine persönlichen Stärken und mein individuelles Entwicklungspotenzial pulsieren. Ich glaube daran, dass es ohne Licht keinen Schatten gibt, dass das Leben stete Veränderung ist und dass nichts ohne Sinn und Grund geschieht.

Dieses Verständnis hat mich vor gut 13 Jahren auf den Weg gebracht meine Schatten zu beleuchten, Selbsterfahrungen, jenseits ausgetrampelter gesellschaftlicher Wege zu sammeln, mein Weltbild zu weiten, um auf die Spur zu finden, den Mann in mir zu entdecken der in mir steckt.

Ich brenne für die Männerarbeit. Ich bin regional seit 10 Jahren in Männergruppen aktiv. Online, als Gründungsmitglied des Männergruppen Netzwerks https://maennergruppen.org Meine Passion ist es, Frieden mit und in mir zu finden und Vorbild für den Frieden dieser Welt zu sein.

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