Wilder Mann
Spannungsfeld: Autonomie – Nähe
Essenzaspekt: Freiheit
Bei diesem Archetyp geht es im Kern um drei große Themen, die alle miteinander verbunden sind:
- Abhängigkeiten
- Abnabelung von der Mutter
- Freiheit
Wer ist der Wilde Mann?
Dieser Archetyp steht für die reife Form männlicher Unabhängigkeit, Erdverbundenheit, Wildheit sowie für eine gesunde Risikobereitschaft und Unangepasstheit. Der Begriff „Wilder Mann“ bezieht sich nicht auf ein wildes äußeres Verhalten, sondern auf den Kontakt zu unserer inneren, freien Wesensnatur. Wie wir diese freie Wesensnatur in uns wahrnehmen, ist individuell verschieden. Du kannst beispielsweise „wild und frei“ als Zahnarzt arbeiten, ein Handwerk ausüben, einer therapeutischen Tätigkeit nachgehen oder über irgend etwas kontemplieren. Vielleicht hast Du aber auch gar keinen oder nur einen schwachen Kontakt zu deinem inneren Wilden Mann.
Der Wilde Mann ist achtsam mit sich und mit der Natur, im Gegensatz zum Barbaren, der den Kontakt zu sich und seiner Mitwelt verloren hat oder nie hatte. Er ist der Natur, seinen Mitmenschen und der Erde tief verbunden und handelt verantwortungsvoll. Der Wilde Mann verkörpert das Wesensprinzip eines freien Mannes, das auf ein natürliches und freies Leben gerichtet ist.
Wo ist der Wilde Mann?
Die Generationen unserer Väter und Großväter hatten eine klare Vorstellung davon, was es bedeutet, ein Mann zu sein und die meisten stellten diese erlernte Sicht auch nicht in Frage. Sie wussten, was Verantwortung ist und waren oft hart gegen sich selbst, denn sie hatten es nicht anders gelernt. Hinzu kommt, dass sie in der Regel auch keine Kraft hatten, dies zu hinterfragen, weil sie durch die beiden Weltkriege traumatisiert waren und ihr Augenmerk vor allem darauf lag, die Familie zu ernähren.
Viele Männer, die heute vierzig Jahre und älter sind, wurden noch stark durch diese Muster ihrer Väter geprägt. Beispiele dafür sind, „Stell dich nicht so an“, „ein Mann weint nicht“, „beiß die Zähne zusammen“ und vieles mehr. Inzwischen hat sich das Rollenbild des Mannes dahingehend verändert, dass vielen klar geworden ist, dass übernommene Muster wie die vorab beschriebenen nicht hilfreich, sondern oft sogar kontraproduktiv für die eigene Entwicklung und die Gesellschaft als Ganzes sind. Männer hinterfragen deshalb immer mehr ihr eigenes Selbstverständnis und zeigen auch zunehmend Gefühle, etwas, das früher nur Frauen zugestanden wurde.
Trotzdem fehlt ihnen häufig etwas. Das zeigt sich auch dadurch, dass sie oft, selbst bei äußerlich günstigen Umständen, nicht glücklich sind und Schwierigkeiten in ihren Beziehungen haben. Sie wissen laut eigener Aussage vielfach nicht, was es bedeutet, Mann zu sein und sind zwar lebenserhaltend aber nicht lebensspendend im Sinne von etwas zum Wohle aller in die Welt zu bringen, womit wir wieder bei einer der Kernfragen eines Initiationsprozesses sind: Wo willst Du hin?.
Dies alles ist ein Hinweis darauf, dass ihnen der Zugang zu einem Teil ihrer Männlichkeit fehlt. Dieser Teil ist häufig der „Wilde Mann“. Er ist in jedem von uns vorhanden, selbst wenn wir ihn ablehnen. Sehr oft haben Männer nur keine Verbindung zu ihm. Dies hat damit zu tun, dass uns die mit diesem Archetyp verbundenen Qualitäten weitgehend aberzogen wurden. Nachstehend führe ich einige wichtige davon auf:
- Energie, die uns antreibt, Neues in uns selbst zu entdecken,
- Unangepasstheit,
- Wildheit,
- Risikobereitschaft,
- Erdverbundenheit,
- Gesunde Sexualität,
- Autonomie
- Freiheit
Dieser Archetyp ist in vielen Lebenssituationen gefragt. Doch wie können wir mit unserem „Wilden Mann“ in Kontakt kommen?
Der Schlüssel liegt unter dem Kopfkissen der Mutter
Wenn wir die Qualitäten des Wilden Mannes kennen lernen und entwickeln wollen, ist es zuvorderst notwendig, unsere Abhängigkeiten zu untersuchen und alle nicht förderlichen zu beenden. Dies setzt voraus, dass wir unsere Wunde erforscht haben, was Thema des ersten Initiationsabschnitts (Archetyp Heiler) ist.
Die wichtigste Quelle unserer Abhängigkeiten ist die leibliche Mutter. In ihr sind wir herangewachsen. Wir waren buchstäblich eins mit ihr, zellulär verwachsen, auch wenn wenn wir von Anfang an ein eigenständiger Organismus waren. Die Mutter hatte absolute Macht über uns. Sie konnte uns annehmen und lieben oder ablehnen. Ja, sie konnte uns sogar abtreiben oder durch Alkohol und andere Drogen nachhaltig schädigen. Wir waren ihr vollständig ausgeliefert, vollkommen ohnmächtig.
Aus dieser Verbindung heraus entsteht eine tiefe Liebe, aber auch die Versuchung, sich mit unserer Mutter zu identifizieren. Aufgrund dieser Abhängigkeit fällt es Männern besonders schwer, die Axtseite der Mutter zu sehen. Dies alles verdeutlicht die Notwendigkeit der Abnabelung, um ganz Mann werden zu können. Eine Frau kann einen Jungen zwar aufziehen, aber sie kann ihn nicht zum Mann machen. Dafür braucht ein Mann andere Männer. Mütter tun sich auch oft schwer damit, ihren Sohn loszulassen.
Viele Mütter haben Vorstellungen davon, was der Sohn einmal werden soll und denken beispielsweise, „mein Sohn der Arzt“, „mein Sohn der Pilot“, aber kaum eine Mutter denkt „mein Sohn der Wilde Mann“. Dies verdeutlicht, dass wir selbst den Schritt aus unseren Abhängigkeiten heraus in die Abnabelung von der Mutter machen müssen.
Im Märchen „Eisenhans“ der Gebrüder Grimm ist dies der Moment, als der Königssohn den Schlüssel zum Käfig, in welchem der Wilde Mann eingesperrt ist, unter dem Kopfkissen der Mutter wegnimmt. Er öffnet den Käfig, der Wilde Mann kommt heraus und der Junge geht mit ihm in die Wälder. Das ist der Beginn des Initiationsprozesses.
Nabeln wir uns nicht von der Mutter ab, nehmen wir alle durch sie verursachten Abhängigkeiten und schädlichen Muster mit in unsere erwachsenen Liebesbeziehungen wo wir uns dann jungenhaft verhalten, weil wir uns der übernommenen Muster nicht bewusst sind und (oft unbewusst) Erwartungen an unsere Partnerin stellen, die wir sonst an die Mutter gestellt haben. Das gleiche gilt umgekehrt für die Muster, bei denen es darum geht, es der Mutter recht zu machen und sie nicht zu enttäuschen. Eine erwachsene Beziehung zwischen zwei Menschen erfordert jedoch reflektiertes erwachsenen Denken und Handeln., um zu gelingen.
Die Mutterwunde
Jeder Mann wurde in seiner Kindheit durch die Mutter verletzt. Die Verletzung ist individuell verschieden und kann auf vielerlei Weise zugefügt worden sein. Um dies zu verdeutlichen gebe ich nachstehend einige Beispiele:
- Deine Mutter hat dir zu verstehen gegeben, dass sie dich nicht will (Mutterbedrohung1).
- Deine Mutter hat dich nicht in die eigene Verantwortung und dein selbständiges Leben entlassen, obwohl es an der Zeit gewesen wäre.
- Deine Mutter hat dir gesagt, dass Sie dich für ihr Leben braucht und Du es für sie leben sollst. Das hat sie durch ihr Handeln betont und dir dadurch Energie entzogen (Mutterbesetzung1).
- Deine Mutter hat dich als Ersatzpartner für ihre nicht funktionierende(n) Beziehung(en) benutzt.
- Deine Mutter hat dich angenommen, dir jedoch klar gemacht, dass sie nicht genug Liebe für dich hat und für sich selbst sorgen muss. Du solltest schnell groß werden und ihr keine Sorgen machen (Muttermangel1).
- Deine Mutter hat dich sexuell missbraucht.
- Deine Mutter hat dir vermittelt, dass sie dich nur solange gern haben kann, wie Du das tust und so bist, wie sie dich braucht (Muttervergiftung1).
- Deine Mutter hat verlangt, dass Du immer brav und ohne Aggressionen warst.
- Deine Mutter hat den Zugang zum Vater blockiert.
- Deine Mutter hat dich oder deinen Vater abgewertet oder dich über deinen Vater gestellt.
( 1 Der Psychoanalytiker und Psychiater Dr. Hans-Joachim Maaz erläutert dies, mit den jeweiligen positiven Gegenstücken, sehr anschaulich in seinem aufschlussreichen Vortrag „Das falsche Leben, unsere normopathische Gesellschaft“ vom 02.05.2017, https://www.youtube.com/watch?v=tJlZNmqMcD4).
Wie wir unsere Verletzungen empfinden und mit ihnen umgehen, ist natürlich individuell verschieden. Entscheidend dabei ist, welche emotionale Botschaft vermittelt wird und was unsere Eltern tun. Die Worte haben eine so hohe Wichtigkeit nicht, sind jedoch trotzdem von Bedeutung. Wenn emotionale Botschaft (z.B. wir lieben dich) und Handeln (z.B. das Kind wird eingesperrt und allein gelassen) nicht übereinstimmen, führt dies zu Doppelbotschaften, also Botschaften, die sich gegenseitig widersprechen, welche häufig eine Bindungsstörung nach sich ziehen und somit auch schädlichen Einfluss auf unsere späteren Beziehungen haben. In den ersten drei Lebensjahren, so Maaz, sind besonders die durch die Mutter übertragenen Störungen von Bedeutung. Danach wird der Vater als Beziehungsangebot immer wichtiger.
Häufig praktizierte vermeintliche Lösungen für den Umgang mit diesen Verletzungen sind Kompensieren (narzißtischer Weg), Ablenken und Betäuben.
Lass mich an dieser Stelle daran erinnern, dass kaum eine Mutter ihre Kinder absichtlich und bewusst verletzt, sondern die Wunde nicht vermeidbar ist. Zur Unvermeidbarkeit der Wunde habe ich bereits in dem ersten Artikel meiner Reihe über die Archetypen etwas geschrieben.
Freiheit
Wenn Du frei sein willst, befreie dich zunächst von deinen unfrei machenden Abhängigkeiten. Dafür ist es erforderlich, dass Du mit deiner Wunde in Kontakt bist und sie erforscht. Ohne Kontakt zu deiner Wunde wird es dir nicht gelingen, mit der dir innewohnenden essentiellen Freiheit in Kontakt zu kommen. Jeder Versuch, dies ohne Erforschung deiner Wunde zu erreichen, wird nicht erfolgreich sein, sondern an der Oberfläche bleiben, möglicherweise auch pubertär oder kindlich wirken.
Männer brauchen Raum, um die ihnen innewohnende, natürliche Wildheit wieder zu entdecken. Wichtig für Männer ist, ihren Körper wiederzugewinnen, ihren freien, lebendigen und emotionalen Körper, dessen Sinne auch geöffnet sind für das Wesen seiner Wildheit, seiner Ungezähmtheit.
Als Mann musst Du dir darüber klar werden, was Freiheit für dich wirklich bedeutet. Es geht darum, zu erkennen, dass Freiheit viel mehr ist und viel tiefer geht, als die primitive Einstellung, alles tun zu können, was dir gerade in den Sinn kommt. Eine der wichtigen Fragen in diesem Zusammenhang ist, ob Du wirklich allein sein kannst. Dabei geht es nicht nur um die Abwesenheit anderer Menschen, sondern auch um das Nichtvorhandensein jeglicher Ablenkung.
Natürlich brauchen wir auch als Männer andere Menschen, denn der Mensch ist nun einmal ein soziales Wesen, aber wenn Du nicht allein sein kannst, kannst Du auch nicht frei sein. Wenn Du nicht frei bist, kannst Du auch keine freie Entscheidung für eine Trennung oder eine erwachsene Bindung treffen und bist somit nicht in der Lage, eine verbindliche, reife Beziehung einzugehen. Nur wenn Du frei bist, kannst Du wirklich lieben. Freiheit ist ein sehr vielschichtiges Thema und ein Essenzaspekt unserer Seele.
Autonomie und Nähe
Dies ist das Spannungsfeld des Wilden Mannes, in dem wir vom Leben bewegt werden. Autonomie ist etwas, das Männer gerne haben möchten, aber natürlich wollen wir auch Nähe zu anderen Menschen und meistens auch intime Kontakte. Das Wort Autonomie kommt aus dem Altgriechischen von Autós (selbst) und Nómos (Gesetz). Autonomie bedeutet also leben nach eigenen Gesetzen. Vor diesem Hintergrund kannst Du nun prüfen, wie autonom Du wirklich lebst.
Der wichtige Punkt und oft auch die Herausforderung hierbei ist, beides ohne unfrei machende Abhängigkeiten zu leben.
Der Schatten des Wilden Mannes
Wenn Du als Mann nicht mit deiner Wunde in Kontakt bist und somit keine Verbindung zu deiner essentiellen Freiheit hast, kann sich dies beispielsweise durch folgende Verhaltensformen ausdrücken:
- Extremsport bis zur Lebensgefahr zwecks Erleben von Grenzerfahrungen,
- Verweigerung gegenüber dem Strom des Lebens,
- Pseudo-Autonomie,
- Abhängigkeiten
Vergebung
Falls Du das Gefühl hast oder glaubst, dass es noch etwas zu verzeihen gibt, verzeihe zunächst dir selbst. Erst dann kann Du anderen verzeihen oder Verzeihung erlangen. Paul Ferrini hat das unter dem Begriff „Die vier Säulen der Vergebung“ schön zusammengefasst:
- Vergebung beginnt in unserem Herzen. Nur wenn wir uns selbst vergeben haben, können wir anderen Vergebung gewähren oder sie von ihnen erhalten.
- Vergebung erfolgt bedingungslos, auch wenn wir uns häufig anders verhalten.
- Vergebung ist ein fortlaufender Prozess. Sie erfolgt als Reaktion auf jedes Urteil, das wir über uns selbst oder andere fällen.
- Jede Geste der Vergebung ist ausreichend. Das, was wir tun können, ist genug. Diese Erkenntnis ermöglicht es uns, Vergebung mit Vergebung auszuüben.
(Ferrini, P., Die zwölf Schritte der Vergebung, Schirner Verlag Darmstadt, 2001, 4. Auflage 2009, ISBN 978-3-89767-557-5)
Wenn Du Verzeihung so praktizierst, ist sie sehr heilsam für alle Beteiligten.
Die göttliche Mutter
Letztendlich geht es auch darum, mit unserer göttlichen Mutter in Frieden zu kommen, denn viele Männer haben bewusst oder unbewusst eine tief sitzende Wut oder gar Hass auf sie, weil sie ihr vorwerfen, sie habe ihnen durch das, was sie erlebt haben, etwas Schlimmes angetan.
Literaturempfehlungen
- 1) Eisenhans, Robert Bly, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 6. Auflage 2010, ISBN 978-3-499-62015-7
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