Der Archetyp des Liebhabers Teil 2

Formen und Entwicklungen eines verdrängten männlichen Archetyps

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3. Kultureller Hintergrund: Der Liebhaber in der Mythologie
In der Mythologie verschiedener Völker gibt es Versinnbildlichungen der Liebhaberenergie. So stehen viele Eigenschaften des indischen Gottes Shiva, des Schöpfers und Zerstörers der Welt, für Liebhaberenergie.

Bei den Griechen gab es Dionysos den Gott der Lust, Liebe und Ekstase und des Weines, der später bei den Römern Bacchus genannt wurde.

3.1. Dionysos, der Gott der Lust

Der griechische Gott Dionysos steht für ausschweifende Feste.

„Er streifte mit einem Gefolge tanzender Nymphen, Sirenen und Bacchantinnen im Land umher und veranstaltete rauschende Feste mit Tanz, Essen, Wein und Ekstase. Im Altertum breitet sich sein ekstatischer Kult mit rasender Geschwindigkeit aus. Dionysos gilt auch als Schöpfer des Theaters, des rituellen Raums in dem tiefe emotionale oder archetypische Prozesse dargestellt werden können.” (Ton van der Kroon, S.78ff)

Dionysos symbolisiert alles, was im weiteren Sinne des Wortes mit Lust zu tun hat: Lebenslust, Trinklust, Esslust, Liebeslust, Lust zu tanzen, Spaß zu haben und die Sinne zu Kitzeln. Er ist der Gott, der die Menschen mit dem Animalischen und der Natur in Kontakt bringt, mit der Magie, der Erotik und dem damit verbunden Göttlichen. Im Gegensatz zu den meisten anderen griechischen Göttern wohnt er nicht auf dem Olymp und hält sich von allen Kriegen fern, er zieht den Genuss dem Kampf vor.

Dionysos symbolisiert eine Seite des Mannes, die lange Zeit ignoriert und verleugnet wurde, eine weibliche, gefühlvolle und sensible Seite. Eine Seite, die mit Spiritualität, Erotik und Sinnlichkeit zu tun hat. Alles Begriffe die bis heute bezogen auf Männer eher Unbehagen auslösen.

3.2. Die westliche Zivilisation und die Liebhaberenergie

Schon zu Zeiten der Griechen und Römer gab es maskulinen Widerstand gegen die Liebhaberenergien, die sich mit Dionysos verbanden. So gab es Menschen, die ihn nicht für göttlich hielten und mit seinem “verweichlichten Kult” nichts zu tun haben wollte. Bei den Römern wurde sein Kult in späteren Zeiten gar verboten und musste im Geheimen stattfinden. Schon im Altertum waren es mehr die Energien von Krieger und Herrscher, die für männliche Ideale standen.

Die Situation verschärfte sich mit der Einführung des Christentums. Alles was mit Sinnlichkeit, Genuss oder gar Sexualität zu tun hatte, wurde verteufelt – und das im wahrsten Sinne der Wortes. Der bockfüßige Pan, der Hirtengott aus dem Gefolge des Dionysos stand Pate bei der Figur des Teufels.

In Rom wurden nach Einführung des Christentums, nicht nur die Bordelle sondern auch die Theater geschlossen. Sex war schlecht und sündhaft, der Körper unrein, Genuss tabu. Auch alle spirituellen Aspekte der Liebhaberenergie wurden für Teufelszeug erklärt. Die späteren Hexenverbrennungen des Spätmittelalters waren Teil einer beispiellosen Vernichtungsaktion   der christlich-abendländischen Kultur gegen alle offenen Formen der Liebhaberenergie.

Ähnliche Ablehnung erfuhr der Archetypus auch im Islam und im Judentum.

Dies alles führte dazu, dass viele Qualitäten der Liebhaberenergie bis in die heutige Zeit hinein verdrängt und verleugnet werden – insbesondere gilt das im Zusammenhang mit männlichen Qualitäten. Männer müssen stark sein, überlegen, klar, selbstbewusst, aber nicht gefühlvoll und sensibel. Eine Ablehnung, die bis nach wie vor tief in der männlichen Psyche verankert ist.

Was heute in vielen patriarchalisch geprägten Gesellschaften sichtbar ist, ist im starken Maße eine Kultur, die die Lebendigkeit des Liebhabers ausgrenzt und somit erstarrt und den Bezug zum Leben verliert.

3.3. Die dunkle Seite
Archetypen lassen sich nicht einfach so abschaffen. Werden sie unterdrückt, so tauchen sie an anderer Stelle als Schatten wieder auf.

In den christlichen Kirchen hielt die Liebhaberenergie wieder Einzug im Bild eines verklärten, gütigen, milden und sanftmütigen Jesus. Im Islamischen Paradies können gläubige Moslems alles nachholen, auf was sie im irdischen Leben verzichten mussten, sie genießen leckere Speisen im Überfluss und werden von schönen Frauen den sogenannten Huris verwöhnt.

Richard Rohr ein amerikanischer Franziskanerpriester und Jungjaner spricht davon, dass man die Priester verweiblicht hat, sie tragen bunte Kleider mit Spitzenbesatz und reden von Güte, Barmherzigkeit und Offenheit. (Richard Rohr S. 37 ff).

Auf der anderen Seite hört man immer wieder von sexuellen Übergriffen von Priestern an Schutzbefohlenen. Auch so zeigen sich verdrängte Archetypen.

Weitaus bedenklicher ist jedoch, was die Verdrängung des Liebhaberarchetyps in der männlichen Psyche angerichtet hat. Viele der Eigenschaften der Liebhaberenergie sind weiblich belabelt. In der Welt der Männer werden diese Eigenschaften als verweichlicht wahrgenommen. Der Preis dafür ist, dass Männer sich oft von diesen Eigenschaften distanzieren sie nicht haben wollen.

Ton van der Kroon beschreibt das in „Die Rückkehr des Löwen“ so:

„Die dunkle Seite des Mannes ist die gewalttätige Energie, die dann entsteht, wenn seine schöpferische Lebensenergie zurückgehalten wird. Sie ist die Wut, die frei wird, wenn der Mann sich verkannt fühlt, wenn sein Wert angezweifelt wird und er sich vor seinen wahren Gefühlen verstecken muss. … Die Leugnung der sexuellen Lebensenergie kann verheerende Folgen haben.“ (Ton van der Kroon, S.85)

Oft entsteht aus dieser Unterdrückung Gewalt, gegen sich selbst – in Form von Selbstzerstörung – oder gegen Frauen – in Form von sexueller Gewalt.

Die tiefsten Wunden hat die Verdrängung der Liebhaberenergie in der Sexualität hinterlassen. Trotz moderner Aufklärungspraktiken, der Überschwemmung ganzer Medien mit erotischem Material, ist das Thema nach wie vor weitgehend tabuisiert. Sexualität wird auf den reinen Akt reduziert und hauptsächlich technisch betrachtet. Die emotionalen Tiefen der Sexualität, der Verletzungen und Spätfolgen, die die jahrhundertelange Verdrängung angerichtet haben, die Scham, Unwissenheit, Ratlosigkeit und Verletztheit, die mit dem Thema einhergehen, werden nach wie vor herabgespielt, ignoriert und verdrängt.

Entgegen der landläufigen Meinung sind nicht nur Frauen die Opfer der patriarchalen Entwicklung der letzten Jahrhunderte, sondern die Psyche der Männer ist genauso betroffen.

Nur durch die lange Verdrängung und Unterdrückung konnte es zu all der Verwundung und all dem Leid kommen, was sich zwischen den Geschlechtern angehäuft hat. Wie Thon van Kroon es ausdrückt:

“Hören wir auf, den Sex schlechtzumachen oder ihn als Ursache allen Elends zu erklären; die Ablehnung von Sex und die Kritik an ihm sind die eigentlichen Übeltäter.“  (Ton van der Kroon, S.96)

Das Patriarchat hat in uns allen seine Spuren hinterlassen. Spuren, die viel tiefer reichen, als uns bislang klar ist. Wir beginnen gerade erst den Schadensbericht aufzunehmen.

3.4. Die Rückkehr des Liebhabers
In den letzten Jahrzehnten war eine Rückkehr der Liebhaberenergie in die westliche Welt festzustellen. Diese Tendenz war zum ersten mal in den sechziger Jahren in der Hippiebewegung sichtbar. Männer ließen sich die Haare lang wachsen, schmückten sich mit Ketten und Ohrringen. Ähnlich wie während des Dionysoskultes ging das ganze mit Drogen, Musik und wilden Tänzen einher. Zum ersten mal seit langer Zeit wurde im größeren Umfang der Zugang zu einer persönlichen Spiritualität und einer freien Sexualität geöffnet. Eine ganze Generation war im Westen von dieser Bewegung beeinflusst. Doch zusammen mit der Energie des Liebhabers zeigten sich auch schnell seine Schattenseiten-Drogen, Sex und Alkohol forderten ihre Opfer. Grenzenlosigkeit und Genuss endeten schnell in Sucht, Orientierungslosigkeit und schließlich Abstumpfung und Zerstörung.

Inzwischen gibt es eine zunehmende Nachfrage nach Spiritualität. Je mehr die traditionellen Kirchen an Einfluss verlieren um so mehr Menschen spüren, dass Ihnen etwas fehlt in ihrem Leben, um so mehr machen sich auf einen eigenen Weg um die fehlenden Anteile an Sinn(lichkeit) und Spiritualität zu suchen.

In Asien war der Kahlschlag an der Liebhaberenergie weit weniger radikal. In einigen östliche Religionen, wie Hinduismus, Buddhismus oder Tantrismus wurden Anteile der Liebhaberenergie bewahrt. Inzwischen findet dieses Gedankengut auch im Westen zunehmend Anklang. Begriffe wie Yoga, Meditation, Tantra, Energiearbeit, Kama-Sutra, werden auch im Westen immer breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich.

Da diese Arbeit im Rahmen eines Tantraseminars entsteht, möchte ich besonders hervorheben, dass gerade im Tantra die Liebhaberenergie eine besondere Rolle spielt. Tantra bietet die Möglichkeit einen neuen, tiefen Zugang zu Sexualität, Körperlichkeit, Gefühlen, sinnlichen Erfahrungen und Spiritualität zu vermitteln. Gleichzeitig kann Tantra ein Gefühl für die eigenen Grenzen, Stärken und Ziele vermitteln, so dass die Liebhaberenergie in guten Bahnen wachsen kann ohne zu exzessiv zu werden und sich in ihre zerstörerische Seite zu drehen.

Neben der Hinwendung zu neuen Ideen, gibt es auch eine Tendenz in unserer Gesellschaft alles zu kommerzialisieren und zu verflachen. Aus sexueller Aufklärung wird ein Sexualkult, aus Körperbezogenheit ein Körperkult, eine ganze esoterische Industrie hat sich inzwischen etabliert. Ob diese Entwicklungen nur Modeerscheinungen sind, oder tatsächlich erste Anzeichen einer Umorientierung, wird die Zeit zeigen. Vielleicht ist es aber auch so, dass zunächst die äußere Form des Archetyps auftaucht und die tieferen essentiellen Energien noch etwas länger benötigen, bis sie spürbar und sichtbar werden.

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Literaturverzeichnis (Quellenangaben)
Bly, Robert (1990). Eisenhans. Ein Buch über Männer. München: Kindler Verlag, 1991.

Bolen, Jean Shinoda (1989). Götter in jedem Mann: besser verstehen, wie Männer leben und lieben. Basel: Sphinx Verlag, 1991.

Großes Lexikon: a bis z (1995). Chur, Schweiz: ISIS Verlag.

Kroon, Ton van der (1996). Die Rückkehr des Löwen : von Liebe, Lust und Herzenspower ; ein Buch für Männer. Freiburg im Breisgau: Bauer Verlag, 2. Auflage 1999.

Moore, Robert & Gilette, Douglas (1990). König Krieger Magier Liebhaber : Die Stärken des Mannes.

Rohr, Richard (1986). Der wilde Mann : Geistliche Reden zur Männerbefreiung. München: Claudius Verlag, 7. Auflage 1988.


Teil 3 erscheint in Kürze im MännerPortal.Net

Über Ralf Hartmann 3 Artikel
Ralf Hartmann. geboren 1960 in der Nähe von Kassel. Studium von Sprachen und Wirtschaft in Kassel. Arbeitet seit über 25 Jahren als selbständiger IT-Berater u.a. in Leipzig, München und seit 7 Jahren mit Lebensmittelpunkt in Wien.

Genau so lange wie mit IT beschäftigt er sich mit Persönlichkeitsentwicklung und Spiritualität, u.a. mit Männer-Themen, Wilderness-Arbeit (School of Lost Borders), IBP, Sexual Grounding, Five Rhythms. Ausbildungen in Tantra (Aruna Institut), Coaching (ESBA), Dialog-Prozessbegleitung und als Psychologischer Berater.
Foto: privat

3 Kommentare

  1. Manchmal liegen die Themen einfach in der Luft! Nachdem wir uns lange mit den Archetypen von Krieger, Magier und König beschäftigt hatten war in unserer mkp-Integrationsgruppe in Frankfurt das letzte Mal der Archetyp des Liebhabers Thema. Was macht unseren inneren Liebhaber aus? Warum wird dieser Archetyp von uns so oft vernachlässigt ? Hat das vielleicht etwas mit der Nähe des Schatten-Liebhabers zu den Suchterfahrungen zu tun, die viele von uns quälend hinter uns gelassen haben? Welche Rolle spielt der Wunsch – vielleicht sogar energetische Missbrauch – einiger unserer Mütter: Wir sollten einmal ein “lieber” Junge werden, nicht so kantig und verschlossen wie unser Vater. Und schließlich: Wie könnte ein Wochenende für Männer aussehen, dass sich nur dem Archetypen des Liebhabers widmet? Wie gehen wir da mit unseren Ängsten um, als “weiblich” oder gar als “schwul” zu gelten?
    Viele offene Fragen und ein Thema, dass sich lohnt vertieft zu werden. Auch – und gerade – weil es uns Angst macht. Danke für den guten Beitrag von Ralf Hartmann zu dem Archetyp des Liebhabers im Männer.Portal.Net!

    Frank-Rüdiger

    • Lieber Frank-Rüdiger,
      danke für Deinen Kommentar zu meinem Artikel.

      Ich möchte gerne auf Deine Frage eingehen, wie man als Männergruppe ein Wochenende dem Archetypen Liebhaber widmen kann.

      Die erste Assoziation zur Liebhaberenergie ist bei den meisten Menschen auf die Sexualität und Liebesbeziehungen gerichtet, kein Wunder, da ja schon das Wort „Liebhaber“ eine eindeutige Bedeutung hat.

      Der Archetyp beinhaltet aber weitaus mehr Aspekte, so gehören Kreativität, Genuss, Tanz, Kunst und durchaus auch wilde Elemente zu dieses spezifischen Energie (auf letzteres gehe ich übrigens im 3. Teil des Artikels noch näher ein).

      Ein Wochenende in der Liebhaber-Energie darf durchaus genussvoll und kreativ sein. Dazu kann ein gutes Essen (mit 1 oder 2 Flaschen Wein) genauso gehören, wie gemeinsames musizieren oder singen, eine Wanderung in der Natur oder ein gemeinsamer Saunabesuch. Vielleicht auch mal richtig abtanzen, oder sich gegenseitig eine Massage zukommen lassen.

      In meiner eigenen langjährigen Männergruppe, haben wir die Erfahrung gemacht, dass es uns immer wieder gut tut, wenn wir mehr Genuss in unsere gemeinsamen Wochenenden bringen. Ich wünsche Euch eine genussvolle und kreative Zeit.

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