Archetypen und ihre Bedeutung für unsere Entwicklung – Teil 6 Der Mystiker

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Mystiker

Spannungsfeld: Wissen – Nichtwissen

Essenzaspekt: Wahrheit, Frieden

Der Mystiker ist stets bereit, sein Wissen in Frage zu stellen und sich darüber bewusst, dass er nicht weiss. Das drückte schon Sokrates aus, indem er, vom Übersetzungsfehler befreit, sagte: „Ich weiss, dass ich nicht weiss“. Dies wird auch durch das Spannungsfeld dieses Archetypen ausgedrückt. Dem Mystiker geht es nicht nur um Wissen um sich selbst, sondern ebenso um Wissen über die gesamte Schöpfung. Die Erlangung von Wissen und die Erkenntnis von Wahrheit geben ihm Frieden. Beides kommt dann, wie es für Essenzaspekte typisch ist, ohne offensichtlichen Grund einfach aus ihm hervor.

Der Mystiker hat kein Interesse an der äusseren Form, denn er weiss, diese nicht die tiefe Wahrheit darstellt. Er erforscht das Wesen hinter den vordergründigen Strukturen. Seine Bewegung führt durch die Struktur hindurch und über sie hinaus ins Nichts. Hier liegt die grösste Chance für Entwicklung, Veränderung, Neugeburt und Rückbindung an das Wesen hinter aller Struktur.

Bardo

Wir Menschen leben bei genauer Betrachtung in einem ständigen Wechsel zwischen Spannung und Ungewissheit, Klarheit und Verwirrtheit.  Dieses teilweise nervenaufreibende  Hin und Her zwischen Einsicht und Desorientierung, geistiger Gesundheit und Unzurechnungsfähigkeit, Klarheit und Verwirrung, Sicherheit und Unsicherheit wird in den buddhistischen Lehren als Bardo1) bezeichnet. Dadurch, dass Weisheit und Verwirrung gleichzeitig in unserem Geist sind, befinden wir uns ständig in einem Zustand des Wählenmüssens zwischen diesen. Wie unser Leben weitergeht hängt davon ab, welche Wahl wir treffen. Die dauernde Unsicherheit führt dazu, dass wir, in der Regel unbewusst, versuchen, im Alltag von einer vermeintlich sicheren Situation zur nächsten sicher erscheinenden Situation zu gehen. Dem gereiften Mystiker ist bewusst, dass es in der Natur dieser Unsicherheit liegt, immer wieder Lücken zu erzeugen. Das sind Räume, in denen sich permanent grosse Möglichkeiten zu umfassender Veränderung auftun. Der Mystiker sucht diese Lücken bewusst auf. Ihm ist klar, dass das Leben ein andauernder Fluss von Geburt, Tod und Übergang ist. Wir Menschen machen also ständig Bardo-Erfahrungen. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil unserer psychischen Prozesse. Wenn wir mit Bardo-Erfahrungen konfrontiert werden und diese als solche erkennen, kann dies schnell Angst auslösen, denn wenn wir uns bewusst in die Lücke begeben und uns für eine Verhaltensweise entscheiden, die uns nicht sicher erscheint, wird sich sofort unsere Struktur, also das Ego, melden, denn es möchte keine Veränderungen. Unsichere Situationen interpretiert es schnell als existenzbedrohend.

Konsequente Arbeit

Der Mystiker ist sich darüber im klaren und sucht die Lücke bewusst auf, weil er weiss, dass darin ein riesiges Entwicklungspotential sowie die grösste Chance für die Rückbindung an all das Wesen liegt, welches das Leben steuert. Er hat gelernt, dem Leben zu vertrauen und gibt sich dessen Fluss voller Vertrauen hin. Dadurch begegnet er immer wieder dem Stirb und Werde, denn das Leben hält vieles für uns bereit, das wir nicht erwarten. Der Mystiker ist deshalb auch bereit, Altbewährtes aufzugeben. Er hat ebenso erkannt und akzeptiert, dass der Glaube, unser Leben kontrollieren zu können, nur Illusion ist. Der gereifte Mystiker hat gelernt, dem Leben so sehr zu vertrauen, dass er sich der Führung Gottes übergibt und sagt: „Dein Wille geschehe, nicht mein Wille“. Auch wenn der Mystiker Gottes Wille geschehen lässt, bedeutet dies nicht, dass er alles passiv hinnimmt. Er erlernt mit der Zeit eine hoch ausgeprägte Entscheidungsfähigkeit und nutzt diese zusammen mit seiner Erfahrung, um sich angemessen zwischen den Polen des aktiven Handelns und dem Geschehen-lassen zu bewegen. Dies wird auch als die Kunst der spirituellen Nichteinmischung bezeichnet. Die Begegnung mit dem Stirb und Werde bietet das Potential, die Rückbindung an das Grosse Ganze wieder zu erlangen, falls uns diese verlorengegangen ist.

Auch hat der Mystiker erkannt, dass das Leben und die gesamte Schöpfung ein Mysterium sind, welches er nicht mit seinem Verstand erfassen kann. Er erforscht es, bestaunt es  und erfreut sich an seiner Pracht. Dem Mystiker geht es nicht um Suchen, Wollen oder Müssen, sondern um ein offenes Schauen zur Begegnung mit dem Göttlichen ohne moderierenden Intellekt. Damit ist gemeint, dass der Mystiker nicht versucht, das, was er im Raum des Nichtwissens erfährt, intellektuell zu erklären. Wenn er etwas versteht, ist dieses Verstehen immer ganzheitlich und lebendiges Verstehen läuft stets über Nichtwissen. Es geht um tiefe Resonanz mit dem, was er erkennt, nicht um reaktives Verhalten.

Der Mystiker hat und braucht selbstverständlich auch Wissen. Dieses kommt nicht nur aus Büchern, sondern ist vor allem Erfahrungswissen, welches er gewinnt, indem er sich in die Lücke begibt, also bewusst den Raum des Nichtwissens betritt und schaut, was dort in der Tiefe ist. Dafür sind viel Erfahrung und Schulung erforderlich. Der Mystiker hat verinnerlicht, dass es ihm durch Kämpfen gegen Gedanken, Umstände und Strukturen niemals gelingen wird, hinter die Form zu schauen. Ihm ist klar, dass dafür Hingabe an den Augenblick und Loslassen sowie Zustimmung zu dem, was ist, erforderlich sind. Ansonsten wird es ihm nicht gelingen, Eins zu werden mit der Kraft, die alles lenkt. Der Mystiker hat gelernt, stets mit geöffneter Wahrnehmung zu schauen, also alles, was er wahrnimmt ohne seine erlernten Filter zu betrachten. Er sucht nicht, sondern schaut offen auf das, was sich im Raum des Nichtwissens zeigt, ist somit auch frei von wollen und müssen. Er kontempliert also. Kontemplation meint, vom lateinischen Verb „contemplari“ abgeleitet, nach Platon und Husserl2) reines Schauen, Wesensschau. Karlfried Graf Dürckheim3) hat es als Seinsfühlung bezeichnet während Williges Jäger4) es   „Schauen in das nackte Sein ohne jede Intuition“ nannte. Letztendlich geht es dem Mystiker um die Begegnung mit dem Göttlichen. Durch Konditionierung glauben viele Menschen, dass Gott nur ausserhalb von ihnen existiert. Das Göttliche ist jedoch ein wesentlicher Bestandteil von uns. Umso wichtiger ist es, hiermit in Kontakt zu kommen, denn wenn wir Gott besser kennenlernen, lernen wir uns selbst besser kennen.

Wie bekommen wir den Zugang?

Nun, wie kann ein Mann diesen Archetyp entwickeln und dem Göttlichen begegnen? Da diese Entwicklung eine Wahrnehmungs- und Wissensschulung ist, erfordert sie die Bereitschaft, sich ständigen Veränderungen zu öffnen. Das führt den Mystiker an Grenzen und Zwischenräume, also in Lücken. Die gewünschte Verbindung mit dem Göttlichen macht auch deutlich, dass der Mystiker ein transpersonaler Archetyp ist, denn er geht auf diesem Entwicklungsweg über die Grenzen der Psyche hinaus. Dadurch, dass er sich diesem Weg öffnet, betritt er den Bereich, der sich hinter allen Gedanken, Formen und Gefühlen öffnet und kommt mit den drei Ebenen menschlicher Existenz in Kontakt:

  • Die Ebene der Form bzw. Materie. Dazu gehören beispielsweise Körper, Gedanken und Strukturen.
  • Die feinstoffliche Ebene. Hier finden wir Essenzthemen und feinstoffliche Energien.
  • Die Ebene des Unmanifesten, auch als Formloses, Numinosum, non-duale Ebene, Gott oder göttliches Prinzip bezeichnet.

Raum, Leere, Weite, Stille, der innere Körper und das Hier und Jetzt sind nach Eckhart Tolle5) Portale zum Göttlichen und damit zum Raum des Nichtwissens, in welchem dieser Kontakt stattfinden kann; damit ist der Mystiker auch der Archetyp der Spiritualität. Er ist eine Bewegung in die Entleerung, während die anderen Archetypen in die Individualisierung führen.

Es ist auf dem Entwicklungsweg des Mystikers entscheidend, diese Portale zu nutzen. Viele Menschen habe heute Schwierigkeiten, in die innere Stille zu kommen. Um dorthin zu gelangen, kann uns beispielsweise bewusstes Atmen helfen oder auch Meditation. Ebenso kann es hilfreich sein, hierfür in die Natur zu gehen. Bewusstes Atmen schafft auch inneren Raum und ist ein hilfreiches Werkzeug, um uns in das Hier und Jetzt zu bringen, was Voraussetzung für die Begegnung mit dem Göttlichen in reiner Präsenz und Wahrnehmung ist. Auf der göttlichen Ebene gibt es keine Vergangenheit und keine Zukunft, nur das Jetzt. Atme dafür über den Bauch und sorge dafür, dass das Ausatmen länger dauert, als das Einatmen. Dadurch wird die Gehirnfrequenz abgesenkt und der Verstand muss sich beruhigen, was dich in die Stille bringt.

Der Gang in die Lücke kann starke Emotionen hervorrufen. Dann ist es wichtig, dass der Mann sein Ich von den Emotionen lösen kann ohne gleichzeitig seine Gefühle zu verdrängen. Am Anfang seines Entwicklungsweges kann es für den Mystiker entscheidend sein, hierbei kompetente Unterstützung zu haben.

Schließlich ist Chaos in Lebensbereichen von wesentlicher Bedeutung stets die Folge eines mangelhaften Zuganges zur Mystikerenergie.

Eine der Kernfragen in einem Initiationsprojekt lautet: „Wer bin ich?“ Wenn wir beispielsweise erkennen, dass wir viel mehr sind, als wir bisher glaubten oder dass wir weder unser Körper noch unsere Gedanken und auch nicht unsere Gefühle sind, konfrontiert uns das mit einer Lücke, denn das Neue ist noch nicht greifbar und will erst in unseren Alltag integriert werden während das Alte nicht mehr haltbar ist. Das ist eine Form von Stirb und Werde. Das, was wir im Raum des Nichtwissens als Stirb und Werde erleben können, ist letztendlich nichts anderes, als das, was wir im Augenblick des Todes erleben werden – unser Körper stirbt und danach wird etwas Neues. Lediglich die Dimensionen unterscheiden sich.

Der reife Mystiker ist ganz bei sich selbst angekommen, denn er lebt das was er ist ganz selbstverständlich, ohne Kampf und ohne das er vorher weiß, was jetzt für ihn zu tun ist oder was das Richtige ist.

Den Mystiker-Archetyp zu entwickeln ist ein entscheidender Schritt in das Erwachsensein, denn er bedeutet die Trennung von der Jugend und damit den Abschied von der ewigen Suche. Das heißt, sich auf das einzulassen, was ist, anstatt ewig weiterzusuchen. Der spirituelle Sucher ist übrigens ein Jugendlicher. Der Mystiker sagt: „Ich öffne mich dem Leben und zwar so, wie ich bin und wie es ist. Mit anderen Worten, nackt, ohne zu wissen, wer ich wirklich bin und ohne zu wissen, wo es hingeht“.

Oftmals wird dieser Archetyp auch als Magier bezeichnet. Letzterer hat jedoch nach meinem Verständnis etwas mit der Beherrschung von Naturgesetzen und Kräften zu tun, was dem Mystiker kaum ein Anliegen ist.

Der Mystiker im Alltag

Der Mystiker trägt das Wissen, welches er im Raum des Nichtwissens erlangt hat, nicht gleich in die Öffentlichkeit, denn dort könnte es auch missverstanden oder abgewertet werden. Er pflegt neue Erkenntnisse erst einmal, erforscht sie weiter und integriert sie in sein Leben. Dies schliesst denken ausdrücklich ein. Er ist vielmehr ein weiser Mensch, der ausgewogen entscheidet, wann es an der Zeit ist, sein Wissen zu teilen und wann es besser ist, dieses noch zurückzuhalten. Ebenso weiss er einzuschätzen, wann Rückzug in die Stille angemessen ist.

Schliesslich ist der Mystiker auch der weise Berater des Königs (siehe Teil 7 dieser Artikelreihe), den dieser für sein Wirken in der Welt braucht. Ebenso schirmt er uns von der überwältigenden Kraft der anderen Archetypen ab und reguliert die Energieströme der verschiedenen Archetypen in unserem Interesse.

Die dunkle Seite des Mystikers

Ein Mann, der seinen Mystiker nicht positiv entwickelt hat, läuft Gefahr Verhaltensweisen wie Manipulation von Menschen und Rechthaberei zu entwickeln. Auch Umweltverschmutzung und die Ausbeutung von Ressourcen der Erde sowie Selbstüberschätzung sind bei solchen Menschen oft anzutreffen. Letztendlich geht es um Kontrolle und Macht. Dies ist der aktive Pol des Schattenmystikers.

Der passive Pol ist der Naive oder Ahnungslose. Auch er will Macht und Kontrolle doch ist er nicht bereit, die Verantwortung, die ein positiver Mystiker übernommen hat, zu tragen. Er will sich nicht mitteilen und lehren. Er weigert sich, anderen Schritt für Schritt weiterzuhelfen und betreibt sogar ihren Fall. Ausserdem verweigert er sich der Selbsterkenntnis.

Sowohl dem aktiven als auch dem passiven Pol fehlt die tiefe Verbindung zum Leben.

Schlussfolgerung

Der vorstehende Text dürfte verdeutlicht haben, dass es für jeden Mann, der diesen Archetyp zur Reife entwickeln möchte, von Vorteil, wenn nicht sogar notwendig ist, eine kompetente Begleitung an seiner Seite zu haben, um zur Essenz des Mystiker-Archetyps vorzudringen. Es liegt also nahe, dass ein Mentor hier wertvolle Hilfestellung geben kann. Natürlich ist seitens des Lernenden auch entsprechende Selbstdisziplin erforderlich.

Quellenangaben:

  • Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben, Sogyal Rinpoche, Verlag O.W. Barth 1999
  • Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, E. Husserl, Felix Meiner Verlag Hamburg 2009
  • Vom doppelten Ursprung des Menschen, Karlfried Graf Dürckheim, Verlag Herder KG 1973
  • Die Welle ist das Meer – Mystische Spiritualität, Williges Jäger, Verlag Herder KG 2000
  • Jetzt! – Die Kraft der Gegenwart, Eckhart Tolle, J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH, Bielefeld 2000
Über Wilhelm Breßer 7 Artikel
Wilhelm Breßer, Jahrgang 1956, ist Gründer und Inhaber der Maheo-Männerakademie (www.maheo.de) sowie von Maheo – Institut für Ganzheitliches Leben (www.maheo.de) in Hennef.

Wilhelm lebt mit seiner Ehefrau und ihren Tieren (2 Pferde, 1 Kater) am Rande des Westerwaldes auf einem wunderschönen natureingebundenen Platz mit Selbstversorgergarten.

Heute arbeitet er als Mentor und Ganzheitlicher Berater für Menschen, vor allem für Männer. In der Männerarbeit ist er seit über 10 Jahren aktiv. Das Leben hat ihn auf teilweise verschlungenen Pfaden und über Krisen dahin geführt, dies heute zu machen, denn es ist das, was er als seine Berufung und seine Seelenaufgabe versteht, wonach sein Herz schreit. Wilhelm ist für seine Lebenskrisen dankbar, denn sonst wäre er heute nicht dort, wo er jetzt ist. Sie haben ihn unter anderem dahin geführt, seine männliche Identität und seine Vision zu finden und diese heute aus vollem Herzen zu leben.

Tätigkeitsschwerpunkte:
• Männerinitiationen
• Männergruppen
• Schwitzhüttenzeremonien für Männer und Frauen
• Medizinradarbeit

„Es ist mir ein Herzensanliegen, die seelisch/geistige Entwicklung von Männern zu fördern.“

Weitere Profile von mir im Internet:
YouTube-Kanal: Maheo-Männerakademie
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