Zwischen „Muss“ und „Muße“

Oder Müßiggang ist aller Kreativität Anfang

Foto: Pixabay | MAGICBOIRO

Der Zettel mit dem Hinweis, „Artikel Schreiben“ (Muss) liegt schon seit Wochen auf meinem Schreibtisch. Seit Wochen möchte ich in der Nachbarschaft in einem Cafè  einen neuen Espresso mit Schokolade ausprobieren. Also nehme ich etwas zum Schreiben in die Hand und gehe ins Cafe. Und siehe da, beim Espresso fallen mir die groben Linien und Ideen zu diesem Artikel ein. Ich habe den Ort gewechselt und das Angenehme mit dem Nützlichen, mit dem Naheliegenden verbunden.

Eine erste Erkenntnis ist mir dabei zugeflogen. Unterbreche Deine Arbeit öfter mal, unterbreche das Muss und widme Dich einen Augenblick der Muße und manche Idee für das Muss kommt von ganz alleine, sozusagen unangestrengt, wie von selbst.

Vor vielen Jahren habe ich mal in einem Kurs gelernt, wie hilfreich es ist, am Beginn eines Arbeitstages sich nicht sofort in den selbigen  zu stürzen, sondern sich 10 Minuten Zeit zu nehmen, alles zu sammeln, was ansteht und die Arbeit über den Tag  zu strukturieren und zu verteilen. Also was muss ich unbedingt heute erledigen, wann mache ich das am besten und was hat auch noch Zeit bis morgen. Dabei gilt, den Tag nur zu 50% zu verplanen, um für die unvorhergesehenen Dinge noch Zeit , aber dennoch das Notwendigste erledigt zu haben. Die Pause dürfen natürlich auch nicht fehlen. Die gilt es festzulegen.Diese Praxis verfolge ich aktuell  wieder konsequenter und merke, wie mir das Muss leichter von der Hand geht und ich wesentlich effektiver arbeite bei einer gleichzeitig größeren Gelassenheit. Ich habe ständig einen Überblick über das Muss und bin dennoch offen für Neues, das mich inspiriert (Muße).  Am Abend streiche ich alle erledigten Sachen in meinem Kalender aus und gehe zufrieden ob der bestandenen „Heldentaten“ nach Hause.

In der Regel verwenden wir viel Kreativität und Equipment auf, unsere berufliche Arbeit zu organisieren und effektiv zu gestalten. Machen wir das auch mit unseren Hobbys, mit unserer Freizeit, mit der Muße, die wir haben und uns gönnen?

Oft kümmern wir uns eher weniger darum und fallen in diese Zeit  hinein, erschöpft, ausgelutscht und ohne Lust. Leider gestaltet sich dann die Zeit der Muße auch entsprechend und bietet dadurch wenig Erholungswert. Ich möchte hier nicht einer durchorganisierten Freizeit das Wort reden, sondern mehr einer erhöhten Aufmerksamkeit für meine eigenen Bedürfnisse. Diese gilt es wahrzunehmen und deren Möglichkeit zur Befriedigung vorzubereiten.

Ich erzähle dir ein Beispiel von mir. Alle 3 Monate fahre ich in ein nahegelegenes Exerzitienhaus und verbringe dort einen Tag für mich. Dieser Tag ist gefüllt mit einem Begleitungsgespräch, Schlafen, Essen, Spazierengehen in einem wunderschönen Wald und was sich sonst noch so ergibt. Diesen Tag (Muße) muss ich auch planen wie ein Wochenende in meiner Arbeit (Muss). Manchmal habe ich montags morgens keine Lust loszufahren, weil ich sonntags mittags erst von einem Männerwochenende nach Hause gekommen bin. Und es gäbe doch noch so viel zuhause zu tun. Aber ich fahre dann doch und komme immer wieder erfüllt zurück, weil es ein Tag für mich, ein Tag der Muße war, der mich hat durchatmen lassen.

Wenn ich dem Muss zu viel Zeit und Raum gebe, wird die Muße allmählich verdrängt, ohne dass ich es richtig bemerke. Ein Anzeichen dieser Verdrängung ist, wenn ich selbst unruhiger, angespannter und kleinlicher  werde. Das ist ein Gradmesser dafür, dass ich selbst zu kurz komme.

Interessanterweise leidet auf Dauer bei fehlender Muße auch die eigene Kreativität , das Mitgefühl und die Mitmenschlichkeit für mich selbst und andere.

Ich spüre bei mir selbst nicht mehr, was mit mir los ist und was ich brauche. Dabei werde ich auch unsensibel für die Bedürfnisse der anderen und verurteile sie vielleicht recht schnell als „Weicheier“, weil ich mich selbst verhärtet und gepanzert habe.

Seit einigen Jahren biete ich in der Mainzer Männerseelsorge ein Seminar mit dem Titel an: „Meine Seele finden im Hier und Jetzt“
Dies spricht Männer immer wieder an, weil sie merken, wie sehr sie im Alltag funktionieren und sich darin selbst  verlieren. Ein Teilnehmer sagte: „Ich habe schon eine Seele, aber ich weiß zur Zeit nicht, wo sie ist.“

Männer sind geneigt, den Anforderungen des Muss nachzugehen und den Möglichkeiten der Muße weniger Beachtung zu schenken. Die Anforderungen des Muss liegen natürlich im beruflichen Bereich, aber auch der Private fordert sie immer wieder vom Hausbau über die Reparaturen, den Bedürfnissen der Frauen und Kinder und deren Erfüllung. Sie hoffen dann auf emotionale Zuwendung vonseiten der Frauen und Kinder und werden nicht selten enttäuscht.

Ekkehart Tolle, der vor Jahren das Buch „Jetzt“ geschrieben hat, zeigt darin auf, wie sehr wir immer wieder in der Vergangenheit und in der Zukunft leben, aber selten im Jetzt zuhause sind. Das „Muss“ ist in der Zukunft und in der Vergangenheit angesiedelt, das muss ich noch machen oder das habe ich immer noch nicht gemacht. Die „Muße“ bewegt sich eher in der Gegenwart, im Hier und Jetzt. Natürlich brauchen wir beides, aber es sollte zumindest ausbalanciert sein.

Tolle skizziert drei Tore, die uns einen Zugang zu dem Jetzt, zu der Gegenwart, zum Leben verschaffen.

Das Tor des Körpers
Der Körper reagiert manchmal mit einem Stopp auf zu viel Muss und zu wenig Muße. Er kommt in die Krise und wird krank. Das kann mit Schlechtsein, Erkältung und ähnlichem beginnen bis hin zu Ausfallerscheinungen oder lebensbedrohlichen Krankheiten eines Herzinfarktes. Das sogenannte „Burn out“ ist auch so ein Alarmsignal.

Wenn wir die Signale rechtzeitig wahrnehmen und vor allem ernstnehmen, können wir viel verhindern.
Positiv gewendet ist der Körper auch eine Chance, mich selbst zu spüren. Wenn wir bewußt atmen, leichten Sport machen, in die Sauna gehen,  uns bewegen, schwimmen, wandern, Rad fahren.  In all diesen Formen können wir wieder zu Atem und damit zu uns selbst kommen. Wir unterbrechen das Muss und frönen der Muße.  Gleichzeitig sind wir in der Gegenwart, in der Muße.

Tor der Stille
Das Tor der Stille finde ich, wenn ich bewußt für einen Augenblick aus dem Muss herausgehe, in meinen inneren Raum der Stille, sozusagen kurz bei mir selbst eintrete. Dies kann ich sogar in einem Großraumbüro tun, indem ich konzentriert auf den Bildschirm schaue, aber eigentlich in mich hineinschaue. Das Tor der Stille hat nicht unbedingt mit der äußeren Stille zu tun, wenngleich sie den Durchgang durch dieses Tor begünstigen kann. Ich kann durchaus mitten im Trubel einer Großstadt sitzen und auf einen bestimmten Ton hören. Dem Glockengeläut einer Kirche, dem Gesang eines lauten Vogels oder auch nur dem Quietschen beim Herannahen der Straßenbahn. Das sind alles Zeiten der Stille, der Möglichkeit, im Jetzt zu sein. Es macht natürlich auch Sinn, in eine Kirche zu gehen und deren Stille inmitten der Stadt zu genießen. Oder wir gehen in den Park, in den Wald und genießen deren andere Taktung, dort ist es ruhiger und  das beruhigt uns selbst.

Das alte Morgen- und Abendgebet, selbst das Tischgebet könnten Tore zu Stille sein. Wenn wir uns morgens und abends nur eine Viertelstunde gönnen würden, in denen wir nichts tun, sondern nur in uns hineinhören, so hätte dies eine große Auswirkung auf unser Wohlbefinden. Wir gehen dabei immer ein Moment aus dem Muss in die Muße. Das erfrischt uns und macht uns wach.

Tor der Annahme
Da gibt es die Schlange vor der Kasse, jetzt wo ich es gerade eilig habe. Man ärgert sich, kann es aber nicht ändern. Da bleibt ja nur Annehmen oder ein sich freuen, dass ich unerwartet eine Pause geschenkt bekomme, die ich auch noch als Entschuldigung nutzen kann.

Tolle sagt, es gibt drei Möglichkeiten, mit unangenehmen Situationen umzugehen. Ändern, verlassen oder annehmen.

Das Annehmen dessen, was ich gerade tue, was ich gerade tun muss, gibt eine innere Freiheit und lässt das Muss leichter von der Hand gehen. Es kann sogar eine Art Muße im Muss sein oder dazu werden.

Wenn ich bewusst das tue, was ich gerade tue, ist ein Zugang zum Hier und Jetzt und damit zur Muße möglich.  Gehen, wenn ich gehe, essen, wenn ich esse und schreiben, wenn ich schreibe, lässt uns das Leben in vollen Zügen genießen, wenn es uns gelingt. Wir befreien uns darin von dem Widerstand, der immer etwas Anderes will oder noch etwas will als das, was wir gerade in diesem Moment tun. Dieses Widerstandslosere befreit uns von einem ungeheuren inneren Stress und lässt das alltägliche Leben schon fast zur Muße werden.

Über Hubert Frank 2 Artikel
Huber Frank arbeitet als Diakon im Gefängnis als Gefängnisseelsorger und als Berater bei www.eupax.eu.

Er verfügt über langjährige Erfahrung in der Männer-Seelsorge und in der Männer-Gewaltberatung.
Telefon: : 06131/5700780 | mail@eupax.eu

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